8.8.09

Tugend

....wenn es sich unseligerweise so ergibt, daß wir, die wir in den Grenzen der gesellschaftlichen Konvention handeln und diese den uns anerzogenen Respekt stete bewahren, dennoch infolge der Verderbtheit der anderen immer nur auf Dornen treten, während jene auf Rosen gebettet sind, werden dann nicht Leute, deren Tugend nicht hinreichend gefestigt ist, um sich über die durch jenen traurigen Umstand bedingten Anfechtungen zu erheben-
werden sie nicht zu dem Schluß kommen, es sei besser, sich mit dem Strom treiben zu lassen, als gegen ihn zu schwimmen?
Werden sie nicht sagen, der Weg der Tugend sei bei all seiner Löblichkeit doch der schlechtere, wenn sich erwiese, daß die Tugend zu schwach sei, gegen das Laster anzukämpfen, und der sicherste Weg in einem solch korrupten Jahrhundert sei, es wie die anderen zu halten?
Und muß nicht, wer -wen man so will- gebildeter ist, von seinen Einsichten jedoch nicht den rechten Gebrauch macht, mit den Engel JESRAD aus Zadig sagen, es gebe kein schlecht Ding, aus dem nicht ein Gutes hervorgehe?
Und wird er dem nicht von sich aus noch hinzufügen, es sei, da nun einmal in unserer unvollkommen eingerichteten bösen Welt Gut und Schlecht in gleichem Maße vorhanden seien, für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts vonnöten, daß es eine gleiche Anzahl guter wie schlechter Menschen gebe, wobei es im Gesamtplane unerheblich sei, wer sich im einzelnen für das Gute oder Böse entscheide?
Wenn die Tugend vom Mißgeschick verfolgt sei, das Laster aber stets vom Wohlergehen umgeben und die ganze Angelegenheit in den Augen der Natur ohne Belang, wäre es dann nicht tausendmal besser, sich zu den Schlechten zu schlagen, denen es wohlergehe, ab zu den Tugenhaften, die scheiterten?

Marquise de Sade
Buch; Justine
Jahr; 1787
Ort; erste Seite

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